Volkstrauertag: Erinnern heißt Verantwortung übernehmen

 
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Beitrag von:

Mitchell Glindemann

Ortsverbandsvorsitzender

Am Volkstrauertag stand ich in diesem Jahr gleich zweimal mit anderen Menschen zusammen: erst am Kriegerdenkmal in Hoisbüttel, später am Ehrenmal in Bünningstedt. Niederlegen von Kränzen, das Trompetensolo, diese besondere Stille, in der selbst ein Husten zu laut wirkt. Für mich war es das zweite Mal, dass ich als Ortsverbandsvorsitzender der FDP Ammersbek an den Gedenkveranstaltungen teilgenommen habe und ich merke: Das ist kein Routine-Termin. Oder er darf es zumindest nicht werden.

Pastor Weißwange sagte einen Satz in seiner Ansprache, der mir im Kopf geblieben ist:

„Weil die Toten schweigen, beginnt alles immer wieder von vorn.“

Genau das ist für mich der Kern dieses Tages. Die, um die wir trauern, können uns nicht mehr warnen. Es liegt an uns, ihre Geschichte ernst zu nehmen oder eben nichts daraus zu lernen.

Wir gedenken der Toten zweier Weltkriege, der gefallenen Soldaten, der zivilen Opfer, der Ermordeten in den Lagern. Wir erinnern an eine Zeit, in der Deutschland nicht Opfer, sondern Täter war. Das auszusprechen, bleibt unbequem. Aber genau darum geht es. Volkstrauertag ist kein Nationalromantik-Tag, sondern ein Tag der Demut: vor der eigenen Geschichte, vor den Millionen, denen Freiheit, Würde und Leben genommen wurden.

Und gleichzeitig drängen sich heute andere Bilder auf. Während wir schweigend an den Denkmälern stehen, führen andere ihre Kriege in Echtzeit auf unsere Bildschirme.

Da ist Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Städte, die in Trümmern liegen, Wohnhäuser, die nachts getroffen werden, Familien, denen nichts bleibt außer einem Koffer. Wir haben uns in Europa lange eingeredet, Krieg sei „etwas von früher“. Spätestens seit 2022 wissen wir: Frieden, Sicherheit, Rechtsstaat sind keine Naturgesetze, sondern mühsam erkämpfte Ordnung und sie kann wieder zerstört werden.

Wenn ich am Ehrendenkmal die Namen der Gefallenen von damals lese, denke ich unweigerlich an die Verteidiger der Ukraine heute. Unser „Nie wieder“ bleibt leer, wenn wir denen nicht beistehen, die genau für diese Ordnung aus Freiheit und Recht ihr Leben riskieren.

Gleichzeitig leiden Menschen an vielen anderen Orten, die im öffentlichen Bewusstsein oft nur Randnotiz sind. Im Sudan tobt ein brutaler Machtkampf, Hunderttausende sind auf der Flucht, Hunger und Gewalt sind Alltag. In Gaza erleben Menschen Unvorstellbares: Not, Angst, zerstörte Häuser, verletzte und getötete Kinder. Zugleich bleibt: Am Anfang dieses grausamen Kapitels stand der Terrorangriff der Hamas und eine Welle von Antisemitismus, der bis heute in unsere Straßen schwappt.

Volkstrauertag heißt für mich: Wir trauern um die zivilen Opfer. Egal, ob sie in Charkiw, Israel, in Darfur oder in Gaza leben. Aber wir relativieren nicht, wer Täter ist, wer Recht bricht, wer Menschenrechte mit Füßen tritt. Humanität ohne Klarheit ist naiv. Klarheit ohne Humanität ist herzlos. Beides zusammen brauchen wir.

Ein Kranz am Ehrenmal ist wichtig. Aber er reicht nicht. Volkstrauertag sollte unser jährlicher Stresstest sein: Meinen wir es ernst mit „Nie wieder“ oder sprechen wir nur die richtigen Worte?

Als ich von den Gedenkveranstaltungen nach Hause ging, hatte ich zwei Gefühle gleichzeitig: Trauer über das, was war und was ist und auf der anderen Seite Entschlossenheit. Wir können die Toten nicht zurückholen. Aber wir können dafür sorgen, dass ihr Schicksal uns wach hält. Dass wir nicht wegschauen, wenn Freiheit unter Druck gerät, egal ob in Europa, im Nahen Osten oder in Afrika.

Erinnern ohne Konsequenz ist Folklore.
Erinnern mit Konsequenz ist Verantwortung.
Für mich ist genau das der Sinn des Volkstrauertags.